Mit Null Wind nach oben

Ulrike Hark © 2014

Ulrike Hark, Tages-Anzeiger Zürich – Kultur & Gesellschaft


Die Drachen von Thomas Horvath machen glücklich: Seine superleichten Hightechflieger brauchen nicht mal ein Lüftchen, um zu steigen.

 

Der kleine wendige Weisse ist derzeit Horvaths Liebster: Er heisst I’ll Be Back, wie der berühmte Spruch von «Terminator» Arnold Schwarzenegger. Allein die Namensgebung der Drachen – der grösste heisst Long Way Home – deutet an, dass Thomas Horvath nicht nur ein Tüftler ist, sondern auch ein eigenwilliger Typ.

Er empfängt uns, die langen Haare zu einem «Büürzi» gebunden, in der Überbauung James in Altstetten. Auf dem Weg zum Atelier klopft er beherzt an die bunten Wände im Treppenhaus und meint: «Beton streicht man einfach nicht farbig an!» Diese Gestaltungssünde stört ihn jedes Mal, wenn er hier vorbeikommt – obwohl, Architektur macht der studierte ETH-Architekt bereits seit einigen Jahren nicht mehr, «mit den Bauherren war es immer etwas schwierig», meint er, und man hat keine Mühe, es ihm zu glauben.

Mit seinen Drachen ist das ganz anders, das ist eine Herzensangelegenheit. Schon während des Studiums hatte er grosses Interesse an leichten Strukturen. «Ich wusste immer, dass ich eines Tages Drachen entwickeln würde», sagt der 53-Jährige. Der berühmte amerikanische Konstrukteur Buckminster Fuller war ihm mit seinem Tensegrity-Prinzip ein Vorbild. Der Clou: Die Einzelteile sind nicht fest, sondern durch Zugelemente miteinander verbunden und bilden eine gespannte Einheit. So werden elastische, stabile Gebilde möglich: Gebäudehallen etwa – und auch Drachen.

Thomas Horvath mit einem Drachen in Flügelform.
Flugvorbereitung in Zürich-Altstetten: Thomas Horvaths Drachen sind speziell für die Stadt geeignet. Foto: Sabina Bobst

Anfang der 90er-Jahre, als Horvath noch als Architekt und Industriedesigner arbeitete, fing die Leidenschaft an, sich zur Profession zu entwickeln. «Immer abends, wenn ich Zeit hatte, war der Wind weg», erinnert er sich. Das hat ihn so geärgert, dass er sich schwor: Du baust einen Nullwinddrachen. Irgendwie muss das gehen!

Die 90er-Jahre waren auch die Zeit hoch entwickelter Lenkdrachen, das Kiten wurde Mode. Doch diese Powerflieger haben zwei Leinen, und sie brauchen Wind, der Auftrieb gibt. Horvaths Hightechkreationen haben das nicht nötig. «Ich will nicht prahlen», sagt er, «aber ich habe etwas völlig Neues entwickelt.» Die Tatsache, dass viele Kopien seiner Drachen in der ganzen Welt herumschweben, gibt ihm recht.

Der Drachen kann «atmen»

Behutsam legt Horvath seinen Liebling, I’ll Be Back, im Atelier auf den Boden. Zupft kurz an der Leine, dass er steil nach oben steigt – und siehe da, er steht über unseren Köpfen unter der Decke. Kaum verliert er an Höhe, reicht ein minimer Impuls, eine leichte Verkürzung der Leine – und schon schwebt er wieder.

Wie ist das möglich? Weshalb fällt er in einem geschlossenen Raum nicht herunter?

Horvath schmunzelt, seine Flieger sind stark von der Flugtechnik und der Aerodynamik der Vögel inspiriert. «Ganz entscheidend ist das Verhältnis von Grösse und Gewicht», sagt er. Long Way Home etwa hat eine Spannweite von 2,76 Metern und wiegt gerade mal 114 Gramm. Kommt hinzu, dass die rund 50 Einzelteile aus hoch technisierten Materialien bestehen.

Das Gerüst etwa ist aus ultraleichten, konischen Karbonröhrchen, das macht sie bei aller Leichtigkeit noch stabiler. Das Kernstück ist die Spreize aus Karbon, sie spannt sich von einer Flügelkante zur andern, doch Spreize und Kante berühren sich nicht. Der Drachen kann also «ein- und ausatmen», geringste Lüftchen nutzen. Die ganze Konstruktion hat Spannung (Tension), und die einzelnen Teile sind über dünne, aber extrem belastbare Kunststoffschnüre miteinander verbunden (Integrity) – Tensegrity eben.

Wenn man das taillierte Segel aus speziell beschichtetem Polyestergewebe zwischen die Finger nimmt, ist es nicht mehr als ein sich manifestierender Hauch. «Das täuscht», sagt Horvath, «es reisst auch bei stärksten Belastungen nicht.»

Von seinen Kreationen spricht er, als seien sie Freunde, Kameraden: «Ich kann sie direkt ansprechen.» Das heisst, dass sie auf ihn hören – auf dem Parkplatz, im engen Hinterhof. In einer schnellen und dichten Stadt wie Zürich ebenso wie auf der Furkapasshöhe oder über der Chinesischen Mauer, wo er seine Gebilde auch schon Loopings drehen liess.

Heute findet die Vorführung auf dem leicht verwilderten Stück Wiesland zwischen den Häusern statt. Horvath liebt die schmale Brache, die bei der Planung der Siedlung mit Absicht so angelegt wurde und der Szenerie etwas Charmant-Provisorisches gibt. Rasch steigt der schnittige Grüne an der Leine auf. Diese ist in höchstem Masse unelastisch, damit jedes noch so leise «Ansprechen» beim Drachen ein Maximum an Wirkung zeitigt. Allen Erklärungen über Materialien und Konstruktion zum Trotz – es bleibt etwas Unerklärliches zurück, wenn der Grüne ohne Wind über uns steht. Ein kleines Wunder, Bild für das perfekte Gleichgewicht.

Kunden in der ganzen Welt

Dieser Flow ist für Horvath auch eine Lebenseinstellung: «Ich versuche, ihn im Alltag zu leben», sagt er. Viele Menschen sehen Kiten als Sport, doch damit hat Horvath nichts am Hut. Obwohl selber von eher starker Postur, schätzt er das Spielerische – und die Gelassenheit. Nur drei Drachen baut er pro Tag, obwohl er locker einen Mitarbeiter anstellen und ein Mehrfaches verkaufen könnte.

13 Modelle mit unterschiedlichem Flugverhalten gibt es derzeit, die Preise liegen um die 400 Franken. Seit rund vier Jahren kann Horvath von seinem Drachen-Labor leben. Kunden hat er inzwischen in der ganzen Welt, vor allem in Deutschland, Spanien, in den USA und natürlich in der Schweiz; die meisten bestellen ihren Wunschdrachen online. «Die Schweiz ist punkto Drachenfliegen leider im Rückstand», sagt er, «vermutlich liegt das an der alpinen Topografie.»

leicht mobil agil

Zu Beginn stand er noch fast täglich mit Schere und Kleber draussen auf der Wiese und probierte an seinen Prototypen herum, bis die Spannung stimmte; bis zum ersten Serienmodell vor zehn Jahren hat er sicher mehr als hundert Prototypen gebaut. Drachendesign ist eben auch Forschung. «Und eigentlich das Gegenteil von Architektur», findet er. «Architektur ist fest, schwer, für eine kleine Ewigkeit gebaut – und die Baustelle ist dreckig», lacht er. «Drachen dagegen sind leicht, mobil, agil, sauber.»

Wir sind zurück in seinem Einmannbetrieb, wo er tagsüber schneidet, klebt, näht und faltet. Zum Schluss wird das Segel gerollt und alles in eine Kunststoffröhre verpackt. Horvath steckt sich eine Zigi an, inhaliert tief und sagt: «Wenn ich die Drachen dann mit dem Velo zur Post gebracht habe, dann spüre ich – es war ein guter Tag.»

 

Freitag, 21. Februar 2014