Sanftes Gleiten in windstillen Momenten

Christoph Abt © 2011

Der Feierabend ist mehr als verdient, die Luft
ist lau, und ein paar Schäfchenwolken stehen
wie festgeklebt am blauen Himmel. Die richtige
Stimmung, um aufs offene Feld zu gehen und
einen Drachen steigen zu lassen.

Aber ohalätz – nirgends weht ein Lüftchen!
Kein Problem mit einem Null-Wind-Drachen.

Text: Christoph Abt © ch 2011


Anfang der 90er Jahre habe ich mit dem Drachenfliegen begonnen. Ich war fasziniert von diesen Lenkdrachen, die an zwei Leinen durch die Luft pilotiert werden und dabei die verrücktesten Figuren fliegen können, sagt Thomas Horvath. «Allerdings braucht es Wind, um solche Drachen fliegen zu lassen. Und genau dieser Wind fehlte meist, wenn ich abends aus der Stadt fuhr, um mit meinen Drachen zu spielen», erzählt er weiter.

drachen gleitet über dem silvaplana-see.
"the long way home" über dem Silvaplana-See. © Markus Egger

Nach 100 Protoypen endlich so weit

Der an der ETH ausgebildete Architekt konnte dies nicht einfach so hinnehmen. Es musste doch einen Weg geben, um auch an einem windstillen Abend einen Drachen steigen zu lassen. Also begann er zu tüfteln und zu experimentieren. Computerberechnungen halfen ein Stück weit, aber das Zusammenspiel zwischen Drachen und Wind liess sich nicht im Atelier simulieren. Doch Thomas Horvath ist ein hartnäckiger Mensch. Nach bestimmt 100 Prototypen war er so weit: Seine Drachen, befestigt an nur einer einzigen Leine, flogen bei Windstille. Und sie waren lenkbar.

Zum guten Glück genügte dem Tüftler dieses persönliche Erfolgserlebnis noch nicht. Im Gegenteil, er witterte eine Marktnische, die er füllen könnte. Also begann er, von einem seiner Drachen, den er «Long way home» (langer Weg nach Hause) taufte, eine erste Serie zu produzieren. Drachenfans kauften ihm in der Folge den Segler mit einer Spannweite von fast 2,8 Metern schneller ab, als er die Teile herstellen konnte.

Für Lebenskünstler und für Vielgestresste

Mittlerweile ist der «Long way home» ein Kultflieger für ausgedehnte, majestätische Flüge in schönen Stunden mit wenig oder null Wind. Aber Thomas Horvath, der heute nahezu ausschliesslich vom Drachenbau lebt, hat inzwischen weitere Modelle entwickelt. Zum Beispiel den «Urban Ninja», einen etwas kleineren, agilen Drachen, der auf einem Parkplatz, in einem Park oder einer Halle geflogen werden kann. «Eine Vision für den ‹Urban Ninja› war, dass ein Banker nach einem erfolgreichen Geschäft auf dem Paradeplatz mit seinem Drachen einen Freudentanz aufführt», schmunzelt Horvath.

Ob es bereits dazu gekommen ist, entzieht sich der Kenntnis von Thomas Horvath. Aber die bohrende Frage bleibt im Raum: Fliegen Horvaths Drachen tatsächlich bei null Wind? Und, falls sie dies tun, macht es auch Spass, mit ihnen ein paar Minuten oder Stunden Freizeit zu verbringen? Die Antwort lautet: Ja, aber.

Erfolg beim ersten Flugversuch

Zuerst zum «Ja»: Bewaffnet mit dem neuesten Modell aus Horvaths Atelier, dem «De Tomaso Superleggera», und einigen Tipps vom Meister persönlich ging es an einem windstillen Sonntagnachmittag auf den Schulhausplatz. Der Zusammenbau des formschönen weissen Drachens war innerhalb von wenigen Augenblicken bewerkstelligt. Und die ersten Flugversuche mit einigen wenigen Metern Leine waren erfolgreich, zumal nahezu jeder vorbeiradelnde Velofahrer das durch die Luft gleitende Objekt bestaunte.

Doch dann stiess der 23-jährige Sohn hinzu, sichtlich angetan von des Vaters Drachenbegeisterung. Und der Sohn rollte die Leine auf mehr als 30 Meter aus, bevor er den «Superleggera» mit einem satten Ruck an der Leine in die Höhe zog. Der Drache stieg und stieg, und er flog – wunderbar mit weisser Silhouette gegen den blauen Himmel – erhaben über den Schulhausplatz, als wäre solches Schweben seine natürliche Bestimmung.

Übermut wird sofort bestraft

Und nun zum «Aber»: Herausgefordert von des Sohnes natürlichem Drachenfliegertalent rollte der Vater die Leine noch einige Meter weiter aus. Und tatsächlich: Nach einem beherzten Rupf am Kabel (wie die Drachenschnur in einschlägigen Kreisen genannt wird) stürzte sich der Drachen förmlich in den Himmel und stieg rasch höher und höher. Doch ausgerechnet in diesem Erfolgsmoment setzte ein kleines Lüftchen ein, und der weisse Flieger driftete in Richtung Gemeindehaus.

Den nachfolgenden Akrobatenakt mit Leiter und Schere hat hoffentlich niemand gefilmt und auf YouTube gestellt. Jedenfalls konnte der «Superleggera» gerettet werden, und der Abwart hat mittlerweile das Gemeindehaus von der abgeschnittenen gelben Drachenleine befreit. Zurück blieb die Erkenntnis, dass vor dem ersten Drachenflug die beiliegenden Anleitungen vollständig durchgelesen und wirklich ernstgenommen werden sollten.

Denn da steht beispielsweise, dass man bei ebendiesem ersten Flug viel freien Platz suchen und nicht in der Nähe von Strassen, Bäumen, Stromleitungen und anderen Hindernissen fliegen sollte. Also auch nicht wenige Meter neben dem Gemeindehaus. Und da man einen Horvath-Drachen mühelos auf 60, 100 oder gar höher als 200 Meter Höhe steigen lassen kann, sollte auch die Nähe von Flughäfen gemieden werden.

Nur das Leichteste ist gut genug

Dies alles gilt natürlich nicht für die kleinen und kleinsten Modelle. Wer den «Urban Ninja» beherrscht, dem genügt im Prinzip ein Hinterhof oder ein Grossraumbüro für einen Drachenflug. Allerdings ist bei solchem Drachenspiel Konzentration und viel Gefühl mit der Leine angesagt, denn sonst droht rasch eine mehr oder weniger folgenschwere Kollision mit einem Fenster oder einer vollen Kaffeetasse. «Mit dem ‹Urban Ninja› wollte ich ein fliegendes Objekt für Leute schaffen, welche sich bis anhin nicht für Drachen interessierten», erzählt Thomas Horvath.

Schön klingende Namen und kühne Visionen in Ehren, aber wieso fliegen diese Dinger wirklich, obwohl kein Windchen bläst? Die lückenlose Antwort würde Seiten füllen, deshalb nur so viel: Die Drachen von Thomas Horvath sind alle leicht, sehr leicht sogar. So wiegt der vom Autor getestete «Superleggera» mit einer Spannweite von 1,3 m nur ganze 31 Gramm. Dies ist nur möglich, weil der Konstrukteur leichteste Materialien wie Karbonröhrchen, zähe Ultraleicht-Folien und dehnungsarme, synthetische Drachenschnüre verwendet.

Um einen derart leichten und doch ansehnlich grossen Drachen in die Höhe zu bringen, reicht ein subtil dosiertes Ziehen an der Leine. «Im Wesentlichen fliegen meine Drachen durch Energie, die der Mensch mit der Leine überträgt», erklärt Horvath. «Und hundertprozentig windstill ist es sowieso nie. Irgendwelche feinen, kaum wahrnehmbaren Luftströmungen sind stets vorhanden, und das reicht ihm, um minutenlang in der Luft zu schweben.»

Qualität ist nicht gratis

Und schliesslich werden sämtliche Drachen von Thomas Horvath persönlich von Hand gefertigt, eingestellt und kurz getestet. «Eine ungenau geschnittene Folie, eine unsauber genähte Stelle, und schon stimmt die Geometrie eines Drachens nicht mehr, und er fliegt nicht, wie er sollte», sagt er. «Speziell bei einem auf das Wesentliche reduzierten Design ist es einfach wichtig, dass jedes Teil präzise hergestellt wird», betont er.

So fabriziert der ETH-Architekt in seinem Atelier – je nach Bestellungseingang auf seiner Website – grosse und kleine Drachen. Dazu nutzt er hochpräzise, computergesteuerte Maschinen und selbstgebaute, clevere Apparate wie beispielsweise einen für das Abmessen und Aufwickeln von Drachenschnur umgebauten Plattenspieler. «Anders als in der Architektur und im Industrial Design begleite ich jetzt lückenlos alle Schritte, von der Idee über verschiedene Entwürfe bis hin zum Serienprodukt. Hinzu kommen Wareneinkauf, Herstellung, Vermarktung, Vertrieb und Kundenbetreuung. Das ist viel Arbeit, aber sie ist abwechslungsreich, spannend und befriedigend», resumiert Thomas Horvath.

Nun, die Null-Wind-Drachen von Thomas Horvath sind nicht gerade billig – ein günstigeres Modell (der vom Autor getestete «Superleggera») kostet über 200 Franken. Aber mit etwas gesundem Menschenverstand eingesetzt, geht so ein Teil auch nie kaputt. Zudem ist alles durchdacht, von der Verpackung in einer schlanken, nahezu unzerstörbaren schwarzen Kunststoffröhre bis hin zum Zusammenbau des Flugobjekts. So, wie man dies von einem Schweizer Produkt eigentlich auch erwartet. Nicht umsonst schreibt das renommierte Architekturmagazin «Hochparterre» über die innovativen Flugspielzeuge aus Zürich: «Schlicht, funktional, minimal, präzis.»

 

Dieser Artikel ist im Kundenmagazin der Elektrizitätswerke des Kantons Zürich erschienen.