Die Balance zwischen Luft und Drachen

Urs Honegger © 2007
hochparterre
Magazin für Architektur und Design

Thomas Horvath hat das Drachenfliegen ohne Wind erfunden. Seine Aktivdrachen bleiben in der Luft, weil ihnen der Pilot über die Leine die richtigen Impulse gibt. Und weil die Flugobjekte präziseste Konstruktionen aus hoch technisierten Materialien sind.


Horvath ist als Konstrukteur auf der Suche nach dem perfekten Gleichgewicht zwischen Luft und Drachen.


Irgendetwas fehlt. Auf einer Wiese bei Brugg im Kanton Aargau steht Thomas Horvath. Mit Zigarette im Mund, den Kopf zum Himmel gewandt. In der Hand hält er eine Leine, die ohne Spannung in den Himmel steigt. An deren Ende hängt in sechzig Meter Höhe ein grosser gelber Drachen. Er steht in der Luft, er schwebt. Bis hier ein gewohntes Sonntagabendbild auf vielen Grünflächen in der Schweiz.

Doch etwas fehlt: Es weht absolut kein Wind. Wie also kann der Drachen fliegen?


Anfang der Neunzigerjahre hat Horvath mit Drachenfliegen angefangen. Damals begann der Trend der technisch hoch entwickelten Lenkdrachen, die an zwei Leinen durch die Luft pilotiert werden. Dabei sind sie auf Wind angewiesen, der Auftrieb gibt. Doch Wind gibt es in der Schweiz selten konstant, vor allem nicht am Abend, Horvaths bevorzugte Flugzeit. Also kam der Architekt und Designer auf die Idee, eine Flugmaschine zu bauen, die ohne Wind fliegt. Das war im Jahr 2000. Er begann zu entwickeln, erst spielerisch, ab 2004 mit dem Ziel, daraus ein Geschäft zu machen. So hat er den ‹Nullwind-Einleiner› erfunden.

Inzwischen hat sich der Begriff ‹Aktivdrachen› eingebürgert. Denn Horvaths Erfindungen fliegen aufgrund der Impulse, die der Pilot über die Leine weitergibt. Zieht der Pilot daran, fliegt der Drachen auf ihn zu und gewinnt an Höhe. Lässt er locker und gibt mit der Leine einen Zwick, dreht der Drachen ab und segelt vom Piloten weg. Dieser gibt Leine nach und kann den Drachen beim nächsten Anziehen höher steigen lassen. Geübte Piloten drehen Flatspins, gleiten knapp über dem Boden oder steigen auf ungeahnte Höhen. Erlaubt ist eine Maximalhöhe von sechzig Meter. Möglich sind mehrere Hundert.

der designer begutachtet einen prototypen.

1 Der Konstrukteur und sein Werk: Der Architekt und Designer Thomas Horvath begutachtet sein Modell "C'est la vie".
Anmerkung: C'est la vie gran turismo in icarex silver.

2 Die Drachennase: Spanngummi und ein schock absorbierendes Gummi-Gussteil.

3 Die Oberseite: Hier kreuzen sich zwei der polyester-ummantelten Spectra-Kunststoffschnüre, die "lines". Sie sind siebenmal stärker als gleich schwerer Stahldraht.

4 Die Unterseite: die Karbon-Spreize mit der "z-line". Darunter die "Waage". Ihr Winkel bestimmt das Flugverhalten.

5 Am Heck von Horvaths Aktivdrachen endet die "y-line". Diese Schnur justiert die Spannung des Segels.

6 Spreize und Leitkante berühren sich nicht. Sie sind nach dem "Tensegrity-Prinzip" mit einer Schnur verbunden.

7 Flügelspitze: Das Segel des Drachens besteht aus polycarbonat-beschichtetem Polyestergewebe.


Der lange Heimweg

Horvaths Liebling heisst ‹Long Way Home›. Er verfügt über eine Spannweite von 2,72 Meter und wiegt dabei gerade mal 114 Gramm. Dieses Verhältnis von Grösse und Gewicht lässt sich nur mit Hightech-Materialien erreichen. Für die Flügel verwendet der Designer ‹Ikarex›, ein spezieller Polyester, formstabil und robust. Das Gerüst ist aus Karbonröhrchen, von Hand gewickelt und konisch, damit sie noch stabiler sind. Sämtliche Details der Konstruktion hat der Designer selbst entwickelt. Simpelste Teile bastelt er aus mehreren Elementen zusammen, um Gewicht zu sparen und Stabilität zu gewinnen, der ganze Drachen besteht aus ungefähr fünfzig Einzelteilen. Das Kernstück der Konstruktion ist die Spreize, ein gebogenes Karbonrohr, das sich von einer Flügelkante zur anderen spannt. Spreize und Kante berühren sich jedoch nicht, sondern sind über eine Schnur miteinander verbunden. «Die Idee kommt vom ‹Tensegrity-Prinzip› von Buckminster Fuller», erklärt Horvath. «Die ganze Konstruktion steht unter Spannung, also ‹tension›, und alle Teile sind miteinander verbunden, also ‹integrity›.» Das Prinzip macht den Flugkörper gleichzeitig elastisch und stabil. Viel Aufwand erforderte auch die Profilierung der Segel. Sie sind tailliert, wie jene der Superyacht Alinghi.

«Die Statik der Konstruktion kann ich mit CAD berechnen. Wie sich das Segel in der Luft bewegt, ist aber auch per Computer nicht analysierbar», unterstreicht Horvath das komplexe Zusammenspiel zwischen Drachen und Wind. Darum rannte er am Anfang seiner Entwicklung fast täglich mit Schere und Kleber bewaffnet auf die Wiese und schnipselte an den Prototypen herum, bis die Spannung im Segel stimmte.

Die richtige Lösung war oft die der Logik entgegen gesetzte

...erinnert er sich. Insgesamt hat er während vier Jahren entwickelt und bis zum ersten Serienmodell mehr als hundert Prototypen gebaut.

Design heisst hier Forschung. Da es diese Art von Flugkörpern noch nicht gab, musste er laufend Dinge erfinden, um an brauchbare Lösungen zu kommen. «Alles an diesem Drachen ist Funktion», sagt Horvath stolz. Die einzige rein ästhetische Entscheidung ist die Farbe. Doch auch da setzen sich die Aktivdrachen von ihren gelenkigen, zweileinigen Kollegen ab. Sie sind einfarbig weiss, gelb, orange, grün oder rosa, alles matt. Dass sein Designschaffen typisch schweizerisch ist, ist Horvath gar nicht so richtig bewusst: schlicht, funktional, minimal, präzis. Seit er seine Modelle verkauft, müssen die Konstruktionslösungen nicht nur dauerhaft, sondern auch bezahlbar sein. Billig sind die Flugobjekte noch immer nicht. Zwischen 222 und 402 Franken zahlt man für ein flugfertiges Exemplar.

Hobby, Sport oder Geschäft

Das Geschäft kommt langsam in Gang. Die meisten Kunden sitzen in Deutschland. Horvath verkauft aber auch nach Amerika, Portugal und Frankreich. Wenn es so weiter geht, werden schon bald mehr Exemplare bestellt, als er selbst bauen kann. Er kann sich vorstellen, dass er für gewisse Arbeitsschritte jemanden einstellt, auch wenn ihm das widerstrebt: «Den ‹Long Way Home› werde ich auch in Zukunft selbst bauen und einfliegen.» Trotzdem will er vom Drachenbau leben. Architektur macht Horvath fast keine mehr, Bauherrschaften sind ihm ein Graus. Im Moment kommt noch die Hälfte seiner Einkünfte vom Industrial Design. Um seine Erfindung bekannt zu machen, hat er eine spannende Website eingerichtet, auf der es auch Videos und Bilder zu sehen gibt. Die beste Werbung machen die Flieger aber für sich selbst, wenn sie am Abend ohne Wind magisch am Himmel schweben.

An diesem Nachmittag in Brugg ist auch Stefan Furter mit von der Partie. Der junge Zuger ist zweifacher Europameister im Lenkdrachenfliegen. Auch er baut seine Wettkampfgeräte selbst. Für seinen Sport braucht er Wind und zwei Leinen. Meisterschaft erreicht, wer Figuren und Tricks langsam und präzise vorführt. Also saubere Winkel fliegt oder den Flieger in die eigenen Seile ein und wieder auswickelt, ohne die Kontrolle über den Flug zu verlieren. Zu den Aktivdrachen meint Furter: «Mir fehlt halt das Element Wind.» Einleiner sind für ihn eine gute Ergänzung, wenn es mal nicht luftet. Für Entwickler Horvath hegt er respektvolle Bewunderung. «Ein Spinner», meint Furter. Als Profi ist er fasziniert von der Verbindung von Segler und Drachen, die zudem präzise gesteuert werden kann.

Was sich heute in der Szene tut, hat für Thomas Horvath in den Siebzigerjahren begonnen. «Das Modell ‹Stunter› von Peter Powell ist der Ursprung der ganzen Bewegung.» Aus ‹Stunter› wurden Anfang der Neunzigerjahre die Hightech-Lenkdrachen entwickelt. «Damals gab es einen richtigen Boom», erinnert er sich. Heute sei der Zenit überschritten: «Jetzt sind nur noch die dabei, die wirklich fliegen können.» Er hofft, mit seiner Erfindung so etwas wie eine Bewegung auszulösen. Nicht unbedingt in der Schweiz, da haben und hatten Drachen einen zu geringen Stellenwert. Aber in Deutschland, Amerika oder Japan.

Vor einem Jahr hat ‹Long Way Home› einen zappeligen kleinen Bruder bekommen: den ‹Urban Ninja›. Während der grosse Bruder lange Flüge in freier Natur macht, tanzt ‹Urban Ninja› im städtischen Hinterhof. Er braucht wenig Platz und beherrscht Tricks, zum Bespiel den Looping – ein absolutes Novum für einen Einleiner. ‹Urban Ninja› ist als Einstiegsdroge gedacht. Die Konstruktion hat der Entwickler auf der Website veröffentlicht. Man kann den Drachen als Bausatz bestellen und zu Hause zusammenbauen. Der Traum, der sich für Horvath mit dem Stadtflieger verbindet: Die Broker der Zürcher Bahnhofstrasse üben in der Mittagspause ihre Tricks.

Gleitfähigkeit versus Schub

‹Long Way Home› und ‹Urban Ninja› stehen für zwei Extreme des Flugverhaltens, für Gleitfähigkeit und Schub. ‹Long Way Home› ist ein Gleiter, ‹Urban Ninja› hat Schub. Gleitfähigkeit vermindert die Lenkbarkeit, Schub macht agil. Wie fest ein Drachen zum einen oder anderen Extrem neigt, kann der Pilot über die Waage einstellen. Sie ist die direkte Verlängerung der Leine und am Kielstab befestigt, der von der Schnauze zum Schwanz verläuft. Ist der Waagewinkel flach, fliegt der Drachen agil, «man packt ihn an der Nase», so Horvath. Ist die Waage steil eingestellt, gleitet der Drachen ruhig, «man führt ihn am Gürtel».

Nicht nur in die Entwicklung und die Konstruktion hat sich Horvath vertieft. Das Thema hat auch eine uralte Geschichte in fast allen Kulturen. Die meisten Quellen verorten die ersten Drachen nach China. Dort sollen sie, lange vor Christi Geburt, als fliegende Signalfackeln verwendet worden sein. Dieser militärische Ursprung passt Horvath nicht. Er verweist auf Polynesien, wo die Drachen – lange vor den Chinesen - eine lebenserhaltende Funktion hatten: «Die ersten wurden zum Fischen erfunden: Ein Blatt an einer Leine bringt die Schnur mit dem Haken weit ins Meer hinaus. Dazu passt auch der ablandige Wind».

Kraft der Entschleunigung

Wie überraschend die Idee der Aktivdrachen ist, zeigt sich auch, wenn man versucht, sie in die Geschichte einzureihen. Die Einleiner sind eine Mischung von Elementen quer durch Kulturen und Zeiten. Hervorgegangen sind sie aus den im Westen entwickelten Lenkdrachen. Von hier stammen auch die hoch technisierten Materialien. Die Art des Fliegens wurzelt in der östlichen Kultur: der spielerische Ansatz, die Leine, die neben dem Flieger am Boden liegt. Der ‹Urban Ninja› steht exemplarisch für diese Verbindung von Ost und West. Form und Flugeigenschaften greifen die Tradition der Kampfdrachen aus Indien oder Pakistan auf. Dort geht es darum, mit der Leine die Schnur des anderen Fliegers zu durchtrennen.

Aktives Drachenfliegen hat für Erfinder Horvath nichts mit Sport zu tun. Auch die ‹Power›, die Modesportarten wie Kitesurfen oder Snowsurfen bestimmt, hat bei ihm keinen Platz. «Es geht um die Ästhetik des Flugs», hält er fest, «um Entschleunigung.» Den Rest an Unerklärlichem, den er beim Konstruieren oft erlebt hat, will er sich erhalten. Wer den Mann mit Leine und Zigarette auf der Wiese stehen sieht, während sein ‹Long Way Home› hoch über ihm gemächlich Kreise dreht, spürt das Wunder auch:

Wie, um Himmels willen, fliegt dieses Teil ohne Wind? Ab einer gewissen Höhe ist der Einfluss des Piloten via Leine minimal. Dann schwebt der Drachen einfach. «Das vollkommene Gleichgewicht», strahlt Thomas Horvath.


Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift hochparterre Ausgabe 10-2007 publiziert.
Die Bilder zum Artikel hat der grossartige zürcher Fotograf Stefan Walter gemacht:
www.stefanwalter.ch, Zürich Schweiz.